Lindisfarne

An der Nordostküste von England, in der Grafschaft Northumberland liegt Lindisfarne, auch „Holy Island“ genannt. Es ist eine Gezeiteninsel, welche nur bei Ebbe mit dem Auto erreicht werden kann.

Lindisfarne Geo

Bild: U. Pape

Vor der Küste dieses einsamen Klosters erschienen am 8.6.793 unvermittelt die Segel von einigen Drachenbooten. Die Mönche, wenn sie die sich nähernden Schiffe überhaupt bemerkt hatten, waren wohl kaum beunruhigt, eher neugierig. Immer wieder kamen ja Pilger und Händler in den kleinen Hafen von Lindisfarne. Aber diesmal war alles anders! Nordische Seeräuber landeten an und begannen unmittelbar damit, anzugreifen und zu töten. Die überraschten und wehrlosen Mönche und die wenigen weiteren Bewohner der einsamen Halbinsel hatten keine Chance: Sie wurden niedergemetzelt oder als Sklaven verschleppt. Die wertvollen Kelche, Reliquiarien, Messgefässe und -gewänder, Vieh und Vorräte wurden weggeschafft. Nach kurzer Zeit war der Spuk vorbei, es blieben nur rauchende Trümmer.
Der Bericht über diesen bis heute beachteten Überfall der Wikinger liest sich in den Angelsächsischen Chroniken, übersetzt ins Neuenglische so:
A.D. 793: This year came dreadful fore-warnings over the land of the Northumbrians, terrifying the people most woefully: these were immense sheets of light rushing through the air, and whirlwinds, and fiery dragons flying across the firmament.
These tremendous tokens were soon followed by a great famine: and not long after, on the sixth day before the ides of January in the same year, the harrowing inroads of heathen men made lamentable havoc in the church of God in Holy-island, by rapine and slaughter.“
oder auf Deutsch etwa:
„In diesem Jahr erschienen unheilverkündende Zeichen über Northumbria, die dem Volk grosse Furcht einflössten. Sie bestanden aus mächtigen Wirbelwinden und Feuerblitzen, und in der Luft wurden feuerspeiende Drachen beobachtet. Diesen Zeichen folgte unmittelbar eine grosse Hungersnot, und kurz danach im selben Jahr, am 8. Juni, wurde die Kirche Gottes auf Lindisfarne durch das Wüten der plündernden und mordenden Heiden erbarmungswürdig verwüstet.“

Die Bedeutung des Überfalles im Juni 793 auf Lindisfarne ist nicht so überragend, wie sie in der heutigen Geschichtsschreibung dargestellt wird und schon gar nicht war es der erste Wikinger-Raid. Vielmehr gab es in den Jahren 617 bis 840 an allen Küsten vom Mitteleuropa Dutzende von Überfällen auf Klöster. Die überhöhte Aufmerksamkeit auf dieses Ereignis ergibt sich aus zwei Gründen:

  • Lindisfarne-Abbey war die herausragende kirchliche Einrichtung im damaligen Königreich Northumbria. Das Kloster wurde 635 gegründet und einige Jahre später vom Heiligen Cuthbert als Abt geführt. Von dort aus wurde die Christianisierung von England vorangetrieben und in der berühmten Schreibschule des Klosters entstanden berühmte Evangeliarien (Details siehe unten!.)
  • Mit der Verbreitung der Nachrichten über den Überfall konnte Aufmerksamkeit erregt und Entsetzen erzeugt werden. Dies half der Ausbreitung des Christentums und hatte den angenehmen Nebeneffekt, dass die Adeligen sich beeilten, die Einrichtung wieder mit Mitteln auszustatten, damit das Kloster in alter Strahlkraft weitergeführt werden konnte.

 

Lindisfarne Abbey 2003.5

 Ruinen von Lindisfarne Abbey
(Foto: U. Pape)

Lindisfarne Castle <–>  Lindisfarne Abbey
Es gehört wohl zu den Folgen unserer kurzlebigen, gehetzten Welt, dass man sogar in seriösen Presseerzeugnissen die beiden obigen Orte immer wieder verwechselt. Husch – Husch, ein paar Sätze getippt und ein Bild aus dem Internet heruntergeladen …. und es war das falsche! Castle und Abbey – Krieg und Frieden, wie ich in meinem Buch dazu schreibe. Hier nochmals die Geschichte beider Orte:

Lindisfarne Castle, erbaut 1548/9
Lindisfarne Castle liegt auf einem uralten, erloschenen Vulkan, genannt „Beblowe Hill“ oder „Beblowe Craig“. Das Fort wurde während der Kriege gegen die Schotten von König Heinrich VIII errichtet. Im Jahr 1543 landeten über 2000 Soldaten mit zahlreichen Schiffen auf der Halbinsel Lindisfarne um England zu verteidigen. Die mittelalterlichen Klosterruinen dienten der Armee zum Teil als Ställe und Lagerhäuser. Im Zuge der Verteidigungsanstrengungen wurde beschlossen, auf dem zwei Kilometer entferten Beblowe Hill ein kleines Fort mit zwei Kanonen zu bauen. Die Ruinen der Abbey dienten dabei als Baumateriallieferant, wie dies damals üblich war. In späteren Jahrhunderten wurde das kleine Fort immer wieder aufgerüstet, hatte aber nie mehr als fünf bescheidene Kanonen und eine Besatzung von 25 Mann – für mehr war gar kein Platz vorhanden.
Zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde das mittlerweile verfallene Fort von einer Privatperson aufgekauft und in ein „Weekendhaus“ umgebaut. Heute gehört es dem „National Trust“ und kann besichtigt werden.
Lindisfarne Castle hat mit dem Wikinger-Überfall vom Sommer 793 gar nichts zu tun!        

Lindisf Castle

Lindisfarne Castle, Photo: U. Pape

Lindisfarne Abbey
Die Abbey auf Lindisfarne ist da von anderem geschichtlichen Format! Sie wurde ca. 635 A.D. gegründet und war ein bedeutendes kirchliches Zentrum der Einkehr und der Wissenschaft mit Ausstrahlung bis auf den Kontinent. Dies verdankte sie einem der bedeutendsten englischen Heiligen, St. Cuthbert. So war denn das Kloster Lindisfarne schon im 7. und 8. Jahrhundert ein für jene Zeit bedeutender Ort, wo unter anderem im Skriptorium auch christliche Texte und Bücher hergestellt und kopiert wurden, wie das bekannte und berühmte Manuskript „The Lindisfarne Gospels“.
Am 8. Juni 793 war das Kloster Lindisfarne Schauplatz jenes oft erwähnten Wikinger-Überfalles, der bis heute nachhallt. Der Überfall wird oft als „erster Wikinger-Raid auf England“ bezeichnet, was aber nicht stimmt! Es gab nämlich schon vorher Überfälle, einer wird auch in den Angelsächsischen Chroniken für das Jahr 787 verzeichnet!
Trotz der unsicheren Zeiten blieb die Abbey von Lindisfarne während der Wikinger-Raids bis zum Jahr 875 bestehen. In diesem Jahr flüchteten die Mönche auf das Festland und brachten sich, die Reliquien ihres Heiligen und ihre wertvollen Handschriften in Sicherheit. Die Gebäude verfielen und erst im Jahre 1081, also nach dem „Norman Conquest“ wurde eine neue „Priory“ auf Lindisfarne gebaut. Es sind die Ruinen dieser und jüngerer Gebäude, die wir heute besichtigen können.
Im Jahre 1537, im Rahmen der „Dissolution of the Abbeys“, wurde auch das Kloster Lindisfarne das Opfer der harten Politik von Heinrich VIII gegenüber der Kirche. Das Kloster wurde aufgehoben, die Klosterschätze in die Staatskasse von Heinrich  VIII übernommen und die Gebäude dem Verfall überlassen bzw. für verschiedene weltliche Zwecke benützt (s. oben!).
Die Gebäude des „jüngeren“ Klosters ab 1081 und weitere Ausbauten sind gut dokumentiert, hingegen hat man von der ursprünglichen Anlage des 7. Jahrhunderts keine Funde gemacht, schon gar nicht auf und um den „Beblowe Craigh“. Die umfangreichen Gebäude befanden sich aber sicher auf weitem, ebenen Grund, schon wegen der Ausdehnung. Die Vermutung liegt nahe, dass die alten Kloster- und Wirtschaftsgebäude am selben Ort standen, wie die heutige Ansiedlung um die Klosterruinen.
Man darf auch nicht vergessen, dass wir die genaue Küstenlinie von Nordost-England im 8. bis 11. Jahrhundert nicht kennen.