Wikinger in Kanada

An der Weltausstellung von 1893 in Chicago war der Nachbau des berühmten „Gokstad“-Schiffes eine grosse Attraktion. In dieser Zeit waren auch erste Übersetzungen der Vinland-Sagas verbreitet worden, welche die brisante Behauptung enthielten, norwegische Wikinger hätten unter Leif Eriksson ca. um das Jahr 1000 herum Amerika betreten. So stand die Geschichte jedenfalls in der „Saga der Grönländer“ und in der „Saga von Leif Eriksson“. Wo aber „Vinland“ genau liegt, konnte aufgrund der Saga-Texte nicht nachvollzogen werden – die Ortsbeschreibungen waren zu ungenau und archäologische Funde (noch) nicht bekannt. Die brisante Behauptung rief italienisch- und spanischstämmige Professoren in den Vereinigten Staaten auf den Plan. Sie sahen das Ansehen „ihres“ Christoph Kolumbus in Gefahr und machten geltend, die Sagas seien erst 250-350 Jahre nach den angeblichen Geschehnissen aufgeschrieben und vorher nur mündlich weitergegeben worden, seien also völlig unglaubwürdig. Jetzt meldeten sich mehrere Amerikaner mit skandinavischen Wurzeln und präsentierten „Beweise“, für eine Reise der Wikinger nach Amerika, u.a. eine uralte Türschwelle aus Stein in die Runen eingeritzt waren. Fatalerweise erwiesen sich jedoch alle angeblichen Beweise schlicht als plumpe Fälschungen.

Nun schaltete sich der Norweger Helge Ingstad *1899 +2001 ein. Ingstad war studierter Jurist, fand aber an diesem Beruf wenig Gefallen. Er wurde Abenteurer, Archäologe und Schriftsteller. Der bizzare Streit um die Fahrten der Wikinger wurde ihm einfach zu blöd und er beschloss, der Frage wissenschaftlich nachzugehen. Weil er ja die Sagas in der Originalsprache lesen konnte, war er prädestiniert, hier Klarheit zu schaffen. Er lernte die gefährlichen Gewässer der Davisstreet zwischen Grönland und Kanada kennen und machte den Hochseeseglerschein. Während mehrerer Jahre suchte er an der Ostküste von Kanada nach Überbleibseln von Siedlungen, die letzten Jahre auch als Begleiter auf Schiffen der Hudson-Bay-Company, welche bis heute einsame Siedlungen versorgen. Im Spätherbst 1960 wurde er schliesslich fündig, ein alter Fischer führte ihn zu einigen schwach erkennbaren Überresten von Mauerfundamenten. Er hatte an der Nordost-Spitze der Insel Neufundland  „L’Anse-aux-Meadows“ gefunden. Ab Frühjahr 1961 grub er zusammen mit seiner Frau, Anna-Stine Ingstad die Reste aus. Dabei kam dem Ehepaar zugute, dass Anna-Stine eine promovierte Archäologin war. Später konnte wissenschaftlich eindeutig bewiesen werden, dass die Siedlung während mehrerer Monate von Norwegern bewohnt war und dass dies um das Jahr 1000 +/- gewesen sein musste.

Grönland Reisen

Grafik: Urs Pape

Die Diskussionen um die Wikinger auf dem amerikanischen Kontinent halten bis heute an und es werden phantastische Geschichten erzählt, z.B. die Norweger hätten auf ihrem Weg entlang der Ostküste Amerikas die Insel Manhattan erreicht etc. Bis heute wird auch geforscht und gesucht und hin und wieder hört man von neuen Funden. Bewiesen ist bis heute aber nur die Präsenz von norwegischen Wikingern in l’Anse-aux-Meadows, dem einsamen Ort auf der Insel Neufundland. Alle anderen Geschichten über Besuche der norwegischen Grönländer auf dem amerikanischen Kontinent sind Wunschträume, Fehlinterpretationen, erfundene Geschichten. Dies gilt für mich bis zu neuen Funden mit wissenschaftlichem Beweis!

Aber halt! Etwas muss ich noch bemerken, damit der Präzision der Aussage Genüge getan ist: Die Wikinger lebten über 450 Jahre auf dem amerikanischen Kontinent: auf Grönland. Gemäss unserem heutigen geologischen Wissen gehört die Insel Grönland nämlich plattentektonisch zum amerikanischen Kontinent!
Also entscheiden Sie selbst: Hat nun Christoph Kolumbus „Amerika entdeckt“?

Aktualisierung: Nun wird möglicherweise die Geschichte ergänzt. Die „Space-Archäologin“ Sarah Parcak hat mit ihrer genialen Methode einen Ort entdeckt, der unser Bild von den Wikingern in der Neuen Welt ergänzen kann. Am Point Rosee, ebenfalls auf der Insel Neufundland gelegen, hat sie Siedlungs-Spuren ausgemacht und im Sommer 2015 eine erste Probegrabung vorgenommen. Tatsächlich könnten dort ebenfalls norwegische Wikinger gesiedelt haben, was sehr gut zu den Funden von L’Anse-aux-Meadows“ passen würde Eine wissenschaftliche Bestätigung mit Altersbestimmung fehlt zurzeit allerdings noch. Ich bleibe dran!

Nachtrag zum Nachtrag:
Mitte 2018 versuchten Archäologen am Point Rosee die aus dem All gesichteten angeblichen Siedlungen zu finden,  auszugraben und zu dokumentieren. Sie fanden nicht mehr und nicht weniger als NICHTS, was auf ehemalige Wikinger-Siedlungen hinweisen würde!
Die Grabungsteams fanden zwar einige bescheidene Siedlungsspuren (Beeren, Schlacke aus Eisenverhüttung) aber diese erwiesen sich als aus dem 15./16. Jhdt. stammend. Der umtriebigen und medienpräsenten Archäologie-Professorin Sarah Parcak blieb der grosse Coup verwehrt – aber wer weiss, was die Zukunft diesbezüglich noch bringen wird!